1. Die deutsche Staatsbürgerschaft

Das Narrativ der nationalen Loyalität

Aus rein rechtlicher Perspektive lässt sich die Frage nach dem Deutsch-Sein relativ schnell und eindeutig beantworten: Dem Grundgesetz zufolge ist jede Person mit deutscher Staatsbürgerschaft deutsch. Somit definiert unser Grundgesetz das Deutsch-Sein und den Anspruch auf Zugehörigkeit mit dem Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft, jedoch dominiert in weiten Teilen der Gesellschaft ein anderes Verständnis darüber, wer deutsch ist und wer nicht.

Einige unserer Gesprächspartner/-innen sahen die Staatsbürgerschaft gar als irreführendes Kriterium der Zugehörigkeit. Sie problematisierten, dass Nicht-Deutsche die Staatsbürgerschaft erwerben können und dass ‚Passdeutsche‘ – ein abwertender Begriff, den sie für Eingebürgerte verwenden – nicht als ‚richtige Deutsche' angesehen werden können. In diesem Zusammenhang dominiert die Vorstellung der Deutschen als ethnische Gruppe, weshalb der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft nicht als entscheidendes Kriterium der Zugehörigkeit anerkannt wird. Demnach bestünde das Problem darin, dass der Besitz eines deutschen Passdokumentes nicht zwangsläufig mit einer deutschen Kultur und einer deutschen Abstammung einhergehe.

Die Vorstellung, wonach die deutsche Staatsbürgerschaft mehr Schein als Sein sei, prägt auch die Kritik an der doppelten Staatsbürgerschaft. Vorbehalte gegenüber dem Prinzip der doppelten Staatsbürgerschaft wurden zum Beispiel in einer unserer Konsultationen mit einem thüringischen Sportverein geäußert. Für das Vereinsmitglied Holger Becker (Pseudonym) sei die doppelte Staatsbürgerschaft, in seinen Worten, „das Allerschlimmste“, denn, so führte er aus: „Wenn hier Menschen leben, in der zweiten oder dritten Generation, die hier ihr Geld verdienen, hier ihre Wohnung haben und dann schreien ‚Ich will den Erdogan wählen!', dann sind die hier fehl am Platz."

Der deutsche Reisepass ermöglicht deutschen Staatsangehörigen visafreie Reisen in 189 und damit mehr als 80% der Länder weltweit. Einzig Reisepässe aus Japan und Singapur ermöglichen mehr internationale Bewegungsfreiheit.
IMAGO / Priller&Maug

Anspruchseinbürgerung §

Wer als Kind deutscher Eltern geboren wurde, erhält mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit. Man muss sich dann keine großen Gedanken um die Staatsbürgerschaft machen. Wer dauerhaft in Deutschland lebt, aber keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, kann sich einbürgern lassen. Für eine Einbürgerung müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden: Die Personen, die sich einbürgern lassen möchten, müssen (1) über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht oder eine Aufenthaltserlaubnis verfügen, (2) für mindestens acht Jahre ihren gewöhnlichen und rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland haben, (3) ihren Lebensunterhalt selbstständig bestreiten, (4) über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, (5) ihre Kenntnisse über die Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie die Lebensverhältnisse in Deutschland in einem Einbürgerungstest nachweisen, (6) nicht wegen einer Straftat verurteilt worden sein, (7) sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennen und (8) ihre alte Staatsbürgerschaft abgeben. Erfüllt eine Person alle oben genannten Kriterien, dann hat sie einen Anspruch auf die Einbürgerung.

Die Vorstellung, wonach die deutsche Staatsbürgerschaft mehr Schein als Sein sei, prägt auch die Kritik an der doppelten Staatsbürgerschaft.
Bei einem Länderspiel Anfang Juni 2018 demonstriert ein Fußballfan seine Kritik am Treffen von Mesut Özil und İlkay Gündoğan mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Das gemeinsame Foto führte im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft der Männer zu einer öffentlichen Debatte über die nationale Identität der beiden deutschen Nationalspieler. Für manche stellte deren deutsche Staatsbürgerschaft keine hinreichende Bedingung dar, um als Deutsche anerkannt zu werden. Das Treffen der Nationalspieler mit Erdoğan galt ihnen als öffentliches Bekenntnis zur türkischen Nationalität, zugleich als Illoyalität gegenüber Deutschland und damit als Beweis dafür, dass die beiden Sportler nicht wirklich ‚deutsch’ seien.
IMAGO / Horstmüller

Doppelte Staatsbürgerschaft §

Doppelte Staatsbürgerschaft: Seit 2000 erwerben Kinder von Ausländern bei der Geburt in Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch, wenn ein Elternteil seit mindestens acht Jahren rechtmäßig in Deutschland lebt und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt (Geburtsortsprinzip). Bis Ende 2014 galt für diese Personen die Optionspflicht: Mit der Volljährigkeit mussten sie sich für eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden. Seit der Gesetzesänderung müssen sie dies nur noch tun, wenn sie nicht in Deutschland aufgewachsen sind.

Bei der in Deutschland häufigsten Form der Einbürgerung, der →Anspruchseinbürgerung, ist die Aufgabe bzw. der Verlust der bisherigen Staatsangehörigkeit vorgeschrieben. Es gibt aber eine Reihe von Ausnahmen: So müssen EU-Bürger/-innen und Bürger/-innen der Schweiz generell nicht ihren bisherigen Pass aufgeben. Bei Bürger/-innen aus Staaten wie Afghanistan, Iran oder Eritrea, die eine solche Entlassung verweigern oder nicht vorsehen, ist eine doppelte Staatsbürgerschaft möglich. Auch bei Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen wird bei der Anspruchseinbürgerung darauf verzichtet, eine Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit zu verlangen.

Die doppelte Staatsbürgerschaft war für Holger Becker Ausdruck mangelnder Loyalität gegenüber Deutschland. Für ihn könne es nur eine Option geben: „Entweder wohne ich hier und lebe hier, dann bin ich Deutscher, oder ich bin Ausländer in Deutschland.“ Problematisch seien dabei weniger die zwei Pässe an sich. Vielmehr steckt hinter einer Aussage wie dieser die Vorstellung, dass die Identifikation mit zwei Nationen unmöglich sei.

‚Diener zweier Herren‘ zu sein gilt dann als Skandal, weil damit der Vorwurf verbunden ist, dass die Zugehörigkeit zur einen Nation immer höherwertiger sein wird als die zur anderen.

Für Holger Becker blieben türkische Deutsche zwangsläufig ‚Türken‘. Die doppelte Staatsbürgerschaft bringe damit eine Scheinhaftigkeit zum Ausdruck: Eigentlich seien die türkischen Deutschen mit doppelter Staatsbürgerschaft weiterhin Anhänger/-innen von Erdoğan und damit nur oberflächlich bzw. zum Schein deutsche Staatsbürger/-innen.

In diesem Narrativ ist die doppelte Staatsbürgerschaft ein Zeichen eines mangelnden Bekenntnisses zu Deutschland: Wer sich wirklich zu Deutschland zugehörig fühle, brauche keinen zweiten Pass. Dabei ist die Vorstellung, wonach die doppelte Staatsbürgerschaft ein Ausdruck mangelnder Loyalität zu einer Nation ist, bereits in der Entstehungsgeschichte von Nationen angelegt. Die französische Revolution brachte ein spezifisch nationales Denken hervor, in dem jede Nation über ein eigenes, abgeschlossenes Herrschaftsgebiet verfügt und jeder Mensch einem nationalen Territorium zugeordnet ist. Die Erfindung der Nation brachte eine neue Ordnung hervor: Mehrsprachigkeit und Mehrfachzugehörigkeiten waren dabei nicht länger vorgesehen. Regionale Identitäten wurden der nationalen Idee untergeordnet. Freilich wurde die nationale Idee der komplexen und sich durch Migration fortwährend verändernden Realität in Europa nicht gerecht. Die Problematisierung der doppelten Staatsbürgerschaft ist daher auch ein Ausdruck dieser widersprüchlichen Situation: Zwar ist die doppelte Staatsbürgerschaft im nationalen Denken verankert, indem sie Menschen Territorien zuordnet. Jedoch bricht sie mit der nationalen Idee, da sie Menschen nicht nur einem Territorium zuordnet. Im Narrativ der nationalen Loyalität bringt die doppelte Staatsbürgerschaft daher die simple Ordnung nationalen Denkens durcheinander.

Weiterführende Literatur:

Brubaker, Rogers (1994): Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich. Hamburg: Junius.

Miller-Idriss, Cynthia (2006): Everyday Understandings of Citizenship in Germany. In: Citizenship Studies 10 (5): 541–570.

Soysal, Yasemin Nuhoglu (2010): Changing citizenship in Europe. Remarks on postnational membership and the national state. In: David Cesarani & Mary Fulbrook (Ed.): Citizenship, nationality, and migration in Europe. London: Routledge: 17–29.