3. Leistungsdeutsche

Das Narrativ der Solidargemeinschaft

Gerade in Krisenzeiten wird die Nation als solidarische Gemeinschaft beschworen. In dieser Vorstellung teilen alle Mitglieder der Nation Wohl und Wehe, stehen füreinander ein, verhalten sich loyal zueinander und leisten ihren gesellschaftlichen Beitrag. Der Vorwurf, sich unsolidarisch und illoyal zu verhalten, wiegt dann besonders schwer. Auch einige unserer Gesprächspartner/-innen knüpfen die nationale Zugehörigkeit an eine Gegenleistung: Wem vorgeworfen wird, nichts zu leisten oder nichts beitragen zu wollen, dem droht, aus der Nation ausgeschlossen zu werden. Hinzu kommt die verbreitete Überzeugung, dass die Deutschen sich in besonderer Weise durch ihre Leistungsfähigkeit und -bereitschaft auszeichnen würden.

Zum Teil wird das Bild des hart arbeitenden Deutschen gezeichnet, der täglich aufsteht, um bereitwillig seinen Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten. So erklärte etwa Jürgen Müller (Pseudonym) während einer Konsultation in Gera, was es ihm bedeute, deutsch zu sein:

„Es gibt gewisse Tugenden, die rein deutsch sind oder die als deutsch bezeichnet werden: Ob das die Ordnungsliebe ist, der Fleiß, die Disziplin oder die Pünktlichkeit und so weiter.“

Derartige Tugenden sind Teil eines weit verbreiteten Selbstbilds der Deutschen. Wer deutsch werden will, müsse sich demnach bemühen, diesem Bild zu entsprechen. Wer hingegen nicht über diese Tugenden verfüge, kann im Umkehrschluss niemals deutsch werden. Dieser Logik folgend beschwerte sich der Lehrer Heinz Godd (Pseudonym), den wir im Erzgebirge trafen, über die Unfähigkeit junger Asylsuchender, eine angemessene Leistung zu erbringen: „Das sind nicht alles gute und liebe Menschen und Arbeitssuchende, die hierher kommen, da muss man schon differenzieren. […] Man muss solide Arbeit leisten. Das ist manchen Kulturen, gerade afrikanischen Kulturen, schwer vermittelbar.“ Die Vorstellung, dass Leistungsbereitschaft und Arbeitswilligkeit kulturelle Eigenschaften der Deutschen seien, hat eine lange Tradition. In ihrer Abhandlung über Deutsche Arbeit weisen Felix Axster und Nikolas Lelle auf die historische Kontinuität der Ausgrenzung hin, die in der Betonung der fleißigen und arbeitswilligen Deutschen mitschwinge. Leistung und Arbeit, Disziplin und Fleiß, Ordnung und Pünktlichkeit, die fortwährende Behauptung, dass es solche deutschen Tugenden gibt, präge ein deutsches Selbstverständnis, das mit der Abwertung anderer einhergehe. So wurde, zeigen Axster und Lelle, von ‚arbeitsunlustigen Afrikanern‘ zur Kolonialzeit, ‚arbeitsscheuen Sinti und Roma‘ im Nationalsozialismus, ,faulen Griechen‘ zur Zeit der Finanzkrise oder – wie in unseren Gesprächen wiederkehrend – von ‚arbeitsunwilligen Asylsuchenden‘ gesprochen. Kurz:

Die Rede von deutschen Tugenden geht von einer Hierarchie aus, die historisch gewachsen ist und noch heute dazu dient, zu bestimmen, wer deutsch ist und wer nicht.

Zynischerweise folgt aus dem Leistungsgedanken nicht automatisch, dass jeder, der fleißig arbeitet und Steuern zahlt, auch tatsächlich Teil der deutschen Gemeinschaft wird. Es kommt auch darauf an, um wessen Leistung es geht. So berichtete uns etwa Kazim Erdoğan (Pseudonym) aus Berlin, dass die Leistungen der seit 1955 angeworbenen migrantischen Arbeitskräfte bis heute in Deutschland nicht wertgeschätzt werden:

Die Fotomontage führt sechs Tugenden auf, die als ‚typisch deutsch‘ gelten.

Die Vorstellung von ‚deutschen Tugenden‘ zeichnet ein durchweg positives Bild der Deutschen und geht nicht selten damit einher, derartige Tugenden Nicht-Deutschen abzusprechen.
Adobe Stock/steffenpi
„Unsere westdeutschen Landsleute wissen ganz genau, dass die Gastarbeiter der ersten Gastarbeitergeneration die Kasse gefüllt haben.“
Ab Mitte der 1950 Jahre beförderten Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien die Arbeitsmigration in die BRD. Ein Zeitungsartikel von 1960 macht deutlich, dass diejenigen, die in der Alltagssprache als ‚Gastarbeiter‘ gelten, dem deutschen Arbeitsmarkt dienen sollten. Politisch ging es entsprechend nicht darum, dass aus ‚Gastarbeitern‘ Deutsche werden. Bis zum ‚Anwerbestopp‘ im Jahr 1973 migrierten etwa 14 Millionen Menschen in die BRD, wovon drei Millionen in Deutschland blieben.
Allgemeine Zeitung, 06. April 1960

Die fehlende Anerkennung für die ‚Gastarbeiter‘ und ihre Leistung sieht er als „die traurige Seite unserer gemeinsamen Geschichte.“ Er kritisiert damit eine verbreitete Vorstellung vom deutschen Wirtschaftswunder: Gerne werde so getan, als sei der wirtschaftliche Aufschwung nach dem zweiten Weltkrieg allein das Ergebnis deutscher Tugenden. Dieses Bild ignoriert und leugnet jedoch die Bedeutung der Arbeitsmigration für das ‚deutsche Wirtschaftswunder‘. Die fehlende Anerkennung der Leistung von migrantischen Deutschen ist für Kazim Erdoğan immer noch aktuell. Er mahnt an,

„dass wenn alle Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, 21,6 Millionen, [...] der Arbeit fernbleiben würden, nur an einem Tag,“ dass dann „unser System zusammenbricht, und erst dann können die Leute von der AfD einmal gucken, was los ist.“ 
Weiterführende Literatur:

Axster, Felix & Nikolas Lelle (2018) (Hrsg.): »Deutsche Arbeit« Kritische Perspektiven auf ein ideologisches Selbstbild. Göttingen: Wallstein.

Campbell, Joan (1989): Joy in work, German work: The national debate, 1800-1945. Princeton: Princeton University.

Leser, Julia (i. E.): Der Wert eines Volkes – Zum narrativen Verhältnis von Nation und Arbeit. In: Mario Futh, Rebecca Pates, Florian Spissinger & Jamela Stratenwerth (Hrsg.): Die Beharrlichkeit der Nation. Interdisziplinäre Perspektiven auf die Funktionalität des Nationalen in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS.

Wietschorke, Jens (2019): Grenzen der Respektabilität. Zur Geschichte einer Unterscheidung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (44–45): 33–39.