Wenn Sie an die Deutschen denken, wen sehen Sie? Sehen Sie Ihre Familie, Ihre Nachbarschaft, die Mitglieder Ihres örtlichen Sportvereins oder denken Sie auch an Menschen, die Sie gar nicht kennen, die in anderen Städten, Dörfern und Bundesländern wohnen? Denken Sie an Menschen, die vielleicht erst vor Kurzem nach Deutschland gezogen sind oder eher an diejenigen, die schon länger hier leben? Wie sehen die Menschen aus, die Sie vor Augen haben? Wodurch zeichnen diese sich aus? Wen sehen Sie, und wen sehen Sie nicht? „Ich mache es an der Hautfarbe fest und an den Augen,“ antwortete uns Uwe Bauer (Pseudonym), Leiter einer Sportgruppe in Thüringen, auf die Frage, ob man erkennen könne, dass jemand deutsch sei. Mit dieser Aussage traf er in seiner Sportgruppe auf erheblichen Widerstand. Man könne die Deutschen nicht am Aussehen erkennen, sagte eine Diskussionsteilnehmerin, höchstens an ihrem Charakter oder Verhalten.
Der Sportleiter bediente mit seiner Aussage ein Narrativ, das so umstritten wie verbreitet ist. Laut ihm seien schlichtweg diejenigen deutsch, die in Deutschland geboren sind und gewisse (sichtbare) Merkmale teilen würden. Wir haben bereits gesehen, dass einige Menschen die Deutschen durch bestimmte Tugenden als eine kulturelle Einheit identifizieren. Derartige Tugenden sind für manche direkt mit Geburt und Abstammung verknüpft. So sagte uns Reiner Winkler (Pseudonym) aus Flensburg:
„Identität bekomme ich in dem Augenblick, in dem ich geboren bin und in den Armen meiner Mutter liege.“
In dieser Vorstellung ist die Nationalität kein rechtlich verliehener Status, sondern das Erbe einer natürlich gewachsenen, kulturell homogenen Gemeinschaft. Dieses ethnonationale Verständnis bildete lange Zeit die Grundlage für die rechtliche Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft. Die Idee dahinter lautet kurz gesagt: Deutsch ist, wer deutsch geboren wird.
So einfach dieses ethnonationale Verständnis von Zugehörigkeit im ersten Moment erscheint, so unklar und rätselhaft wird es beim genauen Hinsehen: Müssen beide Elternteile deutsch sein? Was ist mit den Großeltern? Wie viele Generationen garantieren eine ‚ethnisch deutsche Abstammung'? Muss man in Deutschland geboren sein, um deutsch zu sein? Was ist mit den Nachfahren von Menschen aus den ehemaligen ‚deutschen Gebieten’? Von welchem Deutschland reden wir überhaupt – von dem seit 1990, seit 1945, seit 1918 oder seit 1871? Die Vorstellung von ethnischer Homogenität wird nicht nur durch die jahrhundertelange Zu- und Abwanderung, sondern zugleich durch die dauerhafte Präsenz nationaler Minderheiten in Deutschland in Frage gestellt.
In Deutschland sind vier nationale Minderheiten anerkannt: Die dänische Minderheit, die friesische Volksgruppe, das sorbische Volk und die deutschen Sinti und Roma. Sie leben seit Jahrhunderten auf dem heutigen Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und haben wie die Karte zeigt, teilweise traditionelle Siedlungsgebiete oder sind, wie im Fall der deutschen Sinti und Roma, in ganz Deutschland ansässig. Nationale Minderheiten haben neben der deutschen Staatsangehörigkeit noch eine weitere nationale Identität und bekommen Bundes- und Ländermittel zur Pflege ihrer Kultur und Sprache. Vor dem Hintergrund der Verfolgung im Nationalsozialismus gibt es keine zahlenmäßige Erfassung dieser Minderheitengruppen.
„Wenn wir uns Deutschland angucken,“ erklärte uns Josef Kunersdorf (Pseudonym) aus dem sächsischen Arnsdorf, „also selbst wenn wir uns Sachsen angucken, wer ist wirklich seit Jahrhunderten in Sachsen gewesen als Familie? […] Das waren eigentlich nur die Slawen, die Sorben, die hier von den Pegida-nahen Leuten noch nicht mal als Sachsen anerkannt werden.“
Mitglieder von Romano Sumnal e.V., ein Verein für Roma in Sachsen, bei einer Gedenkreise nach Auschwitz mit der Delegation des Zentralrats deutscher Sinti und Roma.
Sinti und Roma leben seit Jahrhunderten auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands, was öffentlich kaum bekannt ist. Auch der rassistisch motivierte Genozid an den Sinti und Roma im Nationalsozialismus und deren bis heute andauernde Diskriminierung wird selten als Teil der deutschen Geschichte wahrgenommen.
Nationale Minderheiten wie die Sinti und Roma sind seit Jahrhunderten auf dem heutigen Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ansässig. Trotzdem wurde und wird deren Zugehörigkeit zu Deutschland immer wieder in Frage gestellt. So berichtete uns Hans Ulrich (Pseudonym) von einer repräsentativen Umfrage, „in der über sechzig Prozent der Deutschen gesagt haben, sie wollen nicht neben Roma wohnen. Ein Drittel hat sogar angegeben, man sollte Sinti und Roma aus Deutschland ausweisen.“ Für ihn sei das unverständlich, denn:
„Sinti wohnen eben, wie gesagt, seit 600 Jahren hier. Da gab es noch gar kein Deutschland. Deutschland gibt es erst seit 300 Jahren. […] Also wer war länger da? Wer hat eigentlich das Recht, wen auszuweisen? Das ist doch hanebüchen. Noch dazu Leute mit deutscher Staatsbürgerschaft. Wieso können die ausgewiesen werden? Weil sie eine andere Hautfarbe haben? Oder eine andere Ethnie?“
Das Narrativ der ‚Deutschgeborenen' ist in Deutschland weit verbreitet. Warum ein solches ethnobiologisches Narrativ so verankert ist und warum nicht längst dynamischere Vorstellungen der Zugehörigkeit zu Deutschland überwiegen, ist auch ein Rätsel für die Wissenschaft. Die Historikerin Fatima El-Tayeb argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die Tendenz, Menschen nach körperlichen Merkmalen zu kategorisieren, historisch gewachsen und fest im nationalen Denken verankert sei. Weil die Unterscheidung von Menschen in Deutsche und Undeutsche nach ethnischen Kategorien tagtäglich und zum Teil unbewusst stattfinde, erscheine diese Einstellung immer noch vielen Menschen als ganz selbstverständlich. Dennoch war vielen unserer Gesprächspartner/-innen das Problem des Rassismus bewusst und das Kriterium ethnischer Zugehörigkeit wurde nur selten in die Diskussion eingebracht. Wie wir aber bereits gezeigt haben, werden statt ethnischer Kriterien oftmals weichere und weniger öffentlich disqualifizierte Kriterien diskutiert, wie etwa die Leistungsbereitschaft oder der Wille, sich in die Gesellschaft einzuordnen. Auch diese Kriterien wurden in unseren Konsultationen oftmals ethnisiert, d.h. dass anhand von Merkmalen wie Leistungsbereitschaft Menschen unabhängig von ihren individuellen Eigenschaften zu ethnischen Gruppen zugeordnet wurden.