Nationale Narrative sind immer partielle Perspektiven – sie bilden Ausschnitte bestimmter Vorstellungen der Nation in der Gesellschaft ab und sind nicht als gesamtgesellschaftliche Perspektive zu verstehen. Nationale Narrative dienen dazu, zu legitimieren, warum und wie bestimmte Personengruppen ein- und ausgeschlossen werden.
Pluralistischen Gesellschaften sind solche partiellen Perspektiven inhärent. Eindimensionale Vorstellungen einer bestimmten, homogenen Gesellschaft führen im Kontrast zur tatsächlichen gesellschaftlichen Pluralität jedoch unweigerlich zu Widersprüchen und Konflikten. Deshalb steht das erste zentrale Ergebnis unserer Studie, die Multiplizität der deutschen Nation(en), in direktem Widerspruch zu den dargelegten, dominanten nationalen Narrativen, die eine gewisse Homogenität des ‚deutschen Volkes‘ behaupten. Denn die Analyse unserer (Gruppen-)Interviews und teilnehmenden Beobachtungen zeigt, dass es die Deutschen nicht gibt. Im Gegenteil:
Es gibt Menschen, die sich zu Deutschland zugehörig fühlen und solche, die dies nicht tun, etwa weil ihr Deutsch-Sein permanent infrage gestellt wird oder weil sie nationale Identitäten schlichtweg bedeutungslos finden. Es gibt Menschen, die stolz auf ihre Herkunft sind und solche, die sich schämen, deutsch zu sein oder gar Deutschland als Nationalstaat vehement ablehnen.
Wer als deutsch gilt, wer deutsch ist und wer es werden kann, ist in den (Gruppen-)Interviews ausgesprochen umstritten: Weder lassen sich die deutsche Kultur, noch die deutschen Werte bestimmen. Jedoch wird gerade in den bisher vorgestellten nationalen Narrativen deutlich, wie die Mobilisierung einer homogenen Nation funktioniert und welchen Zweck sie erfüllt.
Wer sind Wir? ist keine harmlose Frage. Unter der Behauptung eines gemeinsamen Wir finden rassistische Proteste statt und mit der Annahme, dass wir durch ‚Überfremdung‘ gefährdet seien, werden Gewalttaten legitimiert. Die Mobilisierung der Nation tendiert im Ergebnis immer zu Ausschlüssen und Ausgrenzungen. Deshalb müssen wir fragen, wie wir über Zugehörigkeit neu nachdenken können.
Grundsätzlich sind die nationalen Narrative unserer Erhebungen kein neues Phänomen, sondern zeigen bei genauerem Hinsehen deutlich die Kontinuitäten nationalen Denkens auf. In Zeiten zunehmender Migration scheinen bewährte nationale Logiken Ausdruck in neuen Gewändern zu finden. Gewisse Narrative halten sich dabei hartnäckig. Ansichten über ‚Deutschgeborene‘ oder gar ‚Leistungsdeutsche‘ halten sich, weil sie gewisse Funktionen erfüllen – Gruppenbildung, Identitätsstiftung und Ordnung – und damit Orientierung geben, wie wir uns in einer komplexen Welt zurechtfinden und uns darin positionieren.
Der erste Schritt auf dem Weg, über Zugehörigkeitsfragen neu nachzudenken und Narrative des Zusammenlebens in Vielfalt zu entwickeln, besteht zunächst darin, sich mit diesen weit verbreiteten nationalen Narrativen auseinanderzusetzen, sich die inhärenten Funktionen dieser Narrative bewusst zu machen und Räume zu bilden, um diese Narrative hinterfragen zu können. Das ist im Kern der Sinn unseres Forschungsprojektes.