Die Nation als Exklusionsmaschine

Wer sind ,Wir‘ in Deutschland? Zwischen pluraler Gesellschaft und nationalem Denken

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Forschungsprojekt Fremde im eigenen Land? Eine Studie über die Veränderbarkeit nationaler Narrative mithilfe Politischer Laboratorien (PoliLab) nahm die zum Teil sehr emotional geführten Debatten um Zugehörigkeit vor dem Hintergrund der ‚Flüchtlingskrise‘ 2015 zum Anlass, genauer zu untersuchen, was sich Menschen in Deutschland unter einer gemeinsam deutschen Identität vorstellen. Im Ergebnis unserer Untersuchungen wird die große Heterogenität der in Deutschland verbreiteten Vorstellungen über das Deutsch-Sein sichtbar.

Flüchtige Begegnungen zwischen Reisenden im Eingangsbereich des Hauptbahnhofs Stuttgart.
»Ich denke, dass das in erster Linie eine Aufgabe dieser Individuen ist und nicht des Staates. Sie tun hier in Deutschland immer so, als wäre es eine Bringschuld des Staates, dass wir die ganzen Menschen integrieren müssten.«
»Weil, auch wenn man so darüber redet – Integration: Worein? Also in eine Gesellschaft, die gewisse Grundwerte hat – ja. Und die sind ja auch festgeschrieben. Da sind wir wieder beim Grundgesetz. Aber darüber hinaus wird es dann schon schwierig.«
»Ob ich jetzt unbedingt deutsch werde? Also mein Aussehen kann ich nicht ändern und ich glaube, das muss ich auch nicht. Und das werde ich auch nicht. Aber ich werde mich an dieses Leben hier anpassen«
»Ich? Ich bin auf gar keinen Fall deutsch! Ich bin halt Ausländer. Ich bin weder hier geboren noch hier in Deutschland aufgewachsen.«
»Also dieses Lokale – ich komme aus Leipzig – ist mir schon ein bisschen wichtiger als „Ich komme aus Deutschland“ oder „Ich bin Deutscher“.«
»Kein Land hat das hinbekommen, was Deutschland geschafft hat, nämlich in der NS-Zeit wirklich systematisch den Massenmord an Millionen Menschen, und nur aus dem Grund, weil sie Juden waren.«
»Man ist deutsch. Man kann nicht deutsch werden. Auch wenn ich jetzt in einem anderen Land leben würde, könnte ich nicht Spanier oder so werden. Das ist auch eine Temperamentsfrage.«
»Menschen, die hier her kommen, haben fast nie das Gefühl, dass sie zugehörig sind oder als Deutsche angesehen werden.«
»Wer Deutscher ist und Deutschland hasst, der hasst sich selber. Warum hasse ich mich selber? Sowas höre ich eigentlich nur von jungen Leuten und das macht mich wirklich traurig.«
»Es gibt keine Definition, was deutsch ist, deshalb würde ich sagen, ich bin ein Mensch einfach.«
»Minderheit ist, wer will. Aber umgekehrt geht es auch: Mehrheit, in diesem Fall deutsch, ist, wer will.«
»Und dann wird ganz schnell klar, dass wenn Leute nicht diesem typischen Deutsch-Sein entsprechen, sie auch nicht mitgezählt werden. Auch wenn sie auch einen deutschen Pass haben, was ja eigentlich das Deutsch-Sein ausmachen sollte.«

Unser Projekt verdeutlicht, dass es insbesondere in Zeiten zunehmender Migrationsdynamiken keine eindeutigen Antworten auf die Frage gibt, wer deutsch ist und wer nicht, sondern dass die Antworten ganz unterschiedlich und zum Teil widersprüchlich ausfallen. Verschiedene Menschen assoziieren unterschiedliche Vorstellungen, Symbole und Gefühle mit dem Deutsch-Sein. Den Deutschen gibt es in dieser Perspektive nicht. Im Gegenteil: Seitdem es Deutschland gibt – und Deutschland gibt es, historisch gesehen, erst seit Kurzem –, ist auch die heterogene Zusammensetzung der Deutschen durchaus Normalität. In Deutschland lebten und leben Menschen, die nationalen Minderheiten angehören, die freiwillig oder im Kontext von Zwang migrierten oder umgesiedelt wurden, die verschiedenen Nationalitäten angehören und sich mit unterschiedlichen Religionen, Lebensweisen und Kulturen identifizieren. Es gibt weder die deutsche Kultur noch die deutschen Werte, sondern ein großes Mehr an Möglichkeiten, sich zu identifizieren, und eine Multiplizität der deutschen Nation(en).

Angesichts dieser tatsächlichen Heterogenität der deutschen Bevölkerung ist es irritierend, wenn eine Homogenität der Nation und des ‚Volkes‘ behauptet und beansprucht wird. Die Vorstellung, dass unterschiedliche Menschen nationale Gemeinsamkeiten teilen, bildet dabei den Kern jedes nationalen Denkens. Während nationales Denken Menschen miteinander verbindet, schließt es andere stets aus. Ausschluss ist nicht einfach eine unerwünschte Nebenwirkung nationalen Denkens, sondern untrennbar mit Nationen verbunden. Wir verstehen die Nation deshalb als Exklusionsmaschine: Wo Zusammengehörigkeit beschworen wird, findet automatisch Ausschluss statt. Nationale Exklusion zeigt sich im gesellschaftlichen Leben auf unterschiedliche Weise. In ihrer äußersten Form führt sie zu Gewalt, Vertreibung und Genozid.

Ausschluss ist nicht einfach eine unerwünschte Nebenwirkung nationalen Denkens, sondern untrennbar mit Nationen verbunden.
Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit:

Am 18. Mai 1990 unterschreiben die Finanzminister Theo Waigel für die BRD und Walter Romberg für die DDR den Staatsvertrag zur Währungs- ,Wirtschafts- und Sozialunion in Bonn. Im Hintergrund stehen Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Lothar de Maizière. Der Vertrag trat am 1. Juli 1990 in Kraft, führte die ‚soziale Marktwirtschaft‘ in der DDR ein und machte die D-Mark zur offiziellen Währung.
IMAGO/ Sven Simon
Die Deutsche Revolution 1848/49 zielte darauf ab, sich vom bisherigen Staatenbund loszusagen und einen einheitlichen deutschen Nationalstaat zu schaffen. Die Revolution wurde schließlich maßgeblich von preußischen und österreichischen Truppen niedergeschlagen. Das Plakat von 1948 erinnert an die erste Revolutionsphase, die Märzrevolution von 1848. Die Betonung der ‚deutschen Einheit‘ bekam mit der Teilung Deutschlands nach 1949 wieder eine neue Bedeutung.
Leipziger Volkskomitee für Einheit und gerechten Frieden, Postkarte/ Privatsammlung

Die Nation: Eine Exklusionsmaschine

Nationen können zunächst als Instrumente betrachtet werden, die Gesellschaften ordnen und zueinander ins Verhältnis setzen, die einige ein- und andere ausschließen. Ursprünglich waren Nationen und nationalistische Bewegungen politische Projekte der Befreiung aus alten feudalen und religiösen Ordnungen. Die Entstehung der Nation in Europa bedeutete zugleich eine neue gesellschaftliche Ordnung, die das Ende der Reiche und Imperien einleitete. Im nationalstaatlichen Denken sind die Staatsbürger/-innen, also die Mitglieder einer Nation, vor dem Gesetz gleich. Im Umkehrschluss wurden Rechtsansprüche gegenüber Nicht-Mitgliedern verwehrt bzw. abgestuft. Das Aufkommen der Nation markiert die Entstehung einer spezifischen Ordnungsidee, die das gesellschaftliche Leben vollkommen durchzieht: Zugehörigkeit, Sicherheit, soziale Absicherung und Herrschaft – alles wird entlang der Unterscheidung zwischen Staatsbürger/-in und Ausländer/-in organisiert. Doch dabei handelt es sich keineswegs um eine natürliche Ordnung.

Laut dem Politikwissenschaftler Benedict Anderson ist die Nation vorerst eine vorgestellte Gemeinschaft, d. h. eine durchaus abstrakte Form der Gemeinschaft, die auf die Vorstellungskraft jedes ihrer Mitglieder angewiesen ist. Nationen sind demnach abstrakte Gebilde, die mit Vorstellungen und Emotionen – Zugehörigkeitsgefühle, Stolz, Scham oder gar ‚Vaterlandsliebe‘ – gefüllt werden, um Gemeinschaft herzustellen. Diese Vorstellungen manifestieren sich in nationalen Narrativen, die eine Gemeinsamkeit zwischen unterschiedlichen Menschen herstellen. Sie beruhen auf der Idee einer geteilten Vergangenheit und einer gemeinsamen Zukunft, die durch zur Verfügung stehende Symbole, Mythen, Traditionen und Erinnerungen erzählt werden.

Nationale Narrative:

Nationale Narrative sind sinnstiftende Erzählungen, die entscheidend für die Bildung von nationalen Identitäten sind. Sie definieren, wer ‚wir‘ sind, was ‚uns‘ ausmacht und in welchem Verhältnis ‚wir‘ zu ‚den Anderen‘ stehen. Wenn die Nation eine vorgestellte Gemeinschaft ist, dann stellt sich die Frage, wie sich die Deutschen ihre Nation vorstellen und welche Bilder und Erzählungen sie mit dem Deutsch-Sein verbinden. Die zentralen Ergebnisse unserer Auswertung von mehr als 150 Interviews lassen dabei zwei grundsätzliche Tendenzen der nationalen Identifizierung und der mit ihnen verbundenen Vorstellungen erkennen.


Auf der einen Seite schien es für die Mehrheit unserer Gesprächspartner/-innen selbstverständlich zu sein, dass sie deutsch sind. Deutsch zu sein war für die meisten eine sowohl unbegründete als auch unhinterfragte Selbstverständlichkeit – eine Tatsache, der keine weitere Bedeutung beigemessen wurde. Höchstens wurden mit dem Deutsch-Sein eher unbefangene und alltägliche Zusammenhänge assoziiert, wie etwa Nationalmannschaften im Fußball, das Singen der Nationalhymne oder Lebensmittel und Produkte, die als ‚typisch deutsch‘ interpretiert wurden.

Das Siegel
‚Made in Germany‘ bringt
die Vorstellung zum Ausdruck, wonach deutsche Produkte sich durch eine herausragende Qualität auszeichnen.
IMAGO / Panthermedia
Public-Viewing in München während der Fußballweltmeisterschaft der Männer 2006 in Deutschland.

Accessoires in schwarz-rot-gold und Deutschlandfahnen demonstrieren die kollektive Unterstützung und Identifikation mit der deutschen Fußballnationalmannschaft. Wie das Motto ‚Die Welt zu Gast bei Freunden‘ aufzeigen sollte, wurde die Weltmeisterschaft einerseits als Ausdruck von Weltoffenheit betrachtet. Andererseits wurde die selbstverständliche Verbreitung nationaler Symboliken als Normalisierung von deutschem Nationalstolz diskutiert.
Istock / paulprescott72

Auf der anderen Seite stießen wir in weiten Teilen unserer Interviews auf Narrative, in denen der Bezug zur Nation und zu nationalen Logiken besonders auffällig war. Der Bezug zur Nation war dabei auffallend, weil die Nation als sozial-ordnende Kategorie mit der Funktion eines ausschließenden Gruppenbildungsprozesses mobilisiert wurde. Dies geschah vor allem vor dem Hintergrund einer normativen Verhandlung der Fragen um Migration, Zugehörigkeit und dem Zusammenleben – kurzum: Vor dem Hintergrund der Debatte um zunehmende Migration nach Deutschland wird die Nation oftmals zu einem auffällig politisierten Thema. Viele unserer Befragten mobilisierten ihre nationale Identität demnach erst, wenn es um die Frage ging, wer dazu gehören sollte und wer nicht, und zwar um einen Anspruch darauf erheben zu können, den Ausgang dieser Frage mitzubestimmen.

Weiterführende Literatur:

Anderson, Benedict R. O. (1996): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt am Main: Campus.

Billig, Michael (2010): Banal nationalism. Reprint. Los Angeles: Sage.

McCrone, David & Frank Bechhofer (2015): Understanding national identity. Cambridge, UK: Cambridge University.

Pates, Rebecca & Mario Futh (2018): Die Nation und ihre Affekte: Eine Untersuchung über die Auswirkungen unterschiedlicher Begrifflichkeiten. In: Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management 3 (2): 187–193.